Keine Signatur
Hannah Stegmayer
2004
catalogue "Folk Sculpture"
Unsere praktische Vernunft produziert Werkzeuge, und der homo habilis hat es darin zu einer Perfektion gebracht, die Gegenstände erzeugt, deren technisches Design ihre Herstellung verbirgt. Handarbeit oder Individualität der Dinge sind verschwunden zugunsten formbarer Ma-terialien und veredelter Oberflächen.
Umso exotischer wirkt auf diesem Hintergrund die Sammlung des Vladimir Archipov, die ihren Reiz der kulturellen Kluft zwischen hochindustrieller Massenproduktion und einmaliger Heimwerkerfindigkeit verdankt. „Aus der Not geboren“, so bezeichnet der Sammler/Künstler seine thingumajics (Dingsbumse), die dem Hersteller wie das selbstverständlichste praktische Ding erscheinen, da sie zu einem eindeutigen Zweck, nämlich zu ihrer Benutzbarkeit gebaut wurden. Konstruktionen unterschiedlichster Bestandteile, die zuvor ihrem ursprünglichen Zweck entfremdet werden mussten, um einen neuen Sinn zu erhalten, führen zu Konstellationen sich eigentlich abstoßender Einzelteile, deren Absurdität man mit Lautréamont Bild für das Surreale beschreiben könnte, nämlich mit dem Zusammentreffen eines Regenschirmes und einer Näh-maschine auf einem Seziertisch.
Wo sie in einer Sammlung auftauchen, sind sie nun zum zweiten Mal zweckentfremdet, und der Betrachter, der sie jetzt als Kunstwerke einordnet, welche sie durch das Sammeln eines Künstlers geworden sind, hat es mit einer spezifischen Ästhetik von Gegenständen zu tun, von deren Gebrauch er abstrahieren muss. Als Ausstellungsstücke wechseln sie vom Herkömmli-chen ins Außergewöhnliche, ja werden sogar zu bedeutungsvollen Dingen.
Zwar kennt man in der Kunst das Readymade, das seinen Mehrwert als Kunstgegens-tand durch den Blick des Künstlers gewinnt, doch die Sammlungsobjekte Archipovs werden zu Gegenständen der Archäologie einer sich im Verschwinden befindenden Wertschätzung prakti-scher, wieder verwertbarer Dinge. Wenn Archäologie gewöhnlich zeitlich vertikal betrieben wird, findet sie hier horizontal statt, während einige hundert Kilometer entfernt als Abfall bezeichnet wird, was von den Erfindern der thingumajics als Rohmaterial genutzt wird. Es zeigt sich, dass Ort und Stelle des Findens wesentlich sind und bedeutsam für die Lesbarkeit und das Ver-ständnis der Fundsache.
Die jeweiligen Interviews mit den Erfindern oder noch auffindbaren Zeitzeugen des Gebrauchs lassen auf Persönlichkeiten schließen, deren abstruse Einfälle oder geniale Ideen einer Vorstellung von den fehlenden Dingen folgend, diese entweder täuschend echt imitieren oder aber völlig verfremdet improvisieren. Je ähnlicher die Konstrukte bestehender Dinge sind, desto naiver scheint ihr Urheber, die Abweichung hingegen, die keiner vorgegebenen Form folgt, wirkt desto genialer, erfordert sie doch eine gewisse Fähigkeit zur Abstraktion. So lassen viele der Sammlungsstücke eine Freude an der Erfindung erkennen und eine Freiheit, die weit über die Notwendigkeit der Gegenstände hinausreicht und den Sprung vom Reproduktiven zum Produktiven schafft.
Oder handelt es sich zumindest bei einem Teil der Sammlungsstücke um Konstrukte, um fiktive Objekte, die eine Geschichte nur vortäuschen - manch eine Beschreibung deutet darauf hin? Und wird Archipov, der Sammler, doch gelegentlich vom Finder zum Erfinder? Wo ist also die Grenze zur Fiktion? Bereits Duchamp hat Readymades erzeugt, also gefälscht. Via Lewandowski, wie viele Fluxuskünstler, hat absurde Gegenstände als Gebrauchsgegenstände ausgegeben, obwohl sie nie als solche gedient haben.
Archipov wird die Frage nach dieser Möglichkeit offen lassen. Immerhin fehlt den Fund-stücken die Signatur, und er präsentiert sie als erweiterbares Archiv. Was ordnet sie also der Kunst zu? Anders als bei Kabakov scheinen die Texte keinen Diskurs über Kunst zu führen.
Also bleiben nur die Tatsache des Sammelns und der Nichtkunstcharakter der Dinge, den der Künstler vorgibt. Ist angesichts der Omnipräsenz von Kunst und Gestaltung nur das vorgeblich Kunstfremde noch Kunst? Tatsächlich wäre Kunst damit auf eine naive Ebene ge-sunken, die spätestens seit der Renaissance undenkbar ist, nämlich das Schaffen, das einen Rezipienten oder Käufer oder andere Werke nicht im Blick hat.
So wird man Archipov doch ein Anliegen unterstellen müssen, nämlich die Bewahrung der Erinnerung, die sein Archiv leisten kann, und die Faszination des Betrachters. Der äußere Anlass ist dabei nur ein Katalysator für eine innere Bewegung, und das ist es wohl auch, was van Gogh erregt, wenn er in sein Tagebuch schreibt: = heute morgen ging ich und besuchte den ort, wo die straßenkehrer den müll abliefern = oh gott war das schön! + morgen bringen sie mir einige interessante stücke von diesem müllhaufen, u. a. straßenlaternen, die kaputt [ …] + verbeult sind = das wäre etwas für ein märchen von H. C. Andersen, dieser haufen von eimern, kesseln, essensbehältern, blechdosen, drähten, laternen, pfeifen + ofenrohren = die von den leuten weggeworfen wurden = ich glaube, das ist etwas, das mich heute nacht in meinen träu-men beschäftigen wird = für den künstler bedeutet das das paradies (Arthur Köpcke)