Texte über das Leben
Iris Trübswetter
2004
catalogue "Folk Sculpture"
Der Moskauer Konzeptkünstler Vladimir Archipov konzentriert sich in seiner Arbeit auf die Idee des Museums, des traditionellen Horts zur Aufbewahrung und Präsentation materieller Kulturgüter Ganz real imitiert er die Formen des musealen Sammelns, Archivierens und Ausstellens. Nur scheinbar hält sich der Künstler an die wissenschaftlichen Regeln kulturanthropologischer Feldforschung, was die Vorgehensweise beim Sammeln betrifft, - und nur scheinbar sammelt er die richtigen Objekte, nämlich als solche anerkannte Kulturgüter. Nicht die wertvollen Dokumente perfekter Handwerkskunst in Verbindung mit kostbarem Material und hoher symbolischer Bedeutung der Hochkultur sind Ziel der Begierde, sondern Antikunstwerke, billige Ersatzprodukte für einfache Gebrauchsgegenstände, aus wertlosem Material irgendwie zusammengebastelt, skurril in ihrem Aussehen, hilfreich im Moment des Bedarfs, selten bewusst gestaltet. Ein wichtiger Aspekt der gesellschaftlichen Wirklichkeit tritt zutage, das Ungesammelte, Unbekannte, Verborgene, Unschöne, ja Schmachvolle einer Gesellschaft wird Teil einer künstlerischen Installation. Ein Anti-Museum mit Antikunstwerken in Moskau im Keller eines baufälligen Wohnhauses, mit einem mörderischen Treppenabgang, ohne elektrisches Licht, verweist als künstlerisches Experiment auf die Fragwürdigkeit musealer Sammlungen einerseits und auf einen konkreten Ausschnitt gesellschaftlicher und kultureller Realität andererseits.
In der Installation tauchen die gesammelten Objekte zusammen mit den Interviewtexten als Readymades auf, wie Kunstwerke präsentiert, auf ihre Geschichte verweisend, doch von ihrem Zweck entfremdet, Versatzstücke eines imaginären Museums, die beliebig vermehrt, ergänzt, angeordnet werden können. Archipov nimmt den entgegengesetzten Weg seines berühmten Moskauer Künstlerkollegen und Vorgängers Ilya Kabakov, der ebenfalls Lebenssituationen in der ehemaligen Sowjetunion nachstellt. Während jener die „Totale Installation“ im Auge hat und die Gegenstände bedarfsgerecht dazu gesammelt werden, stellt Archipov den gesammelten Gegenstand in den Mittelpunkt der Betrachtung und die Lebenswelt soll sich daraus erschließen. Ein Vorgehen, das dem kritischen Betrachter mehr Spielraum gibt für eigene Imagination.
Sozialistischer Realismus ist wesentlicher, wenn auch verpönter Teil des kulturellen Erbes der Sowjetunion. Sozialistischer Realismus, der die Lebenswelt des einfachen Volkes überhöht darstellte, den Arbeiter, Bauern und Revolutionär als Helden stilisierte, das helle Licht des Sozialismus über die Szenerie ausgoss, hatte seit Stalin den öffentlichen Kunstgeschmack geprägt. Nicht unbeeindruckt von diesem Erbe russischer Kultur, dreht Archipov die Argumentationslinie um: seine Helden sind ebenfalls die einfachen Leute, doch sind es die Individualisten, die auf den nivellierenden Druck eines allmächtigen Staates, die erniedrigenden Lebensumstände und den zynischen Mangel an Gebrauchsgütern im alltäglichen Leben mit Erfindergeist, ja Genialität reagieren. War die Sammlung zunächst fast wehmütig diesen nicht-offiziellen Reminiszenzen des Sozialismus verschrieben, erweiterte und verallgemeinerte Archipov sie generell und weltweit auf Fundstücke, die alltäglichen Erfindergeist belegen, der trotz oder unabhängig von einem alles regelnden Gesellschaftssystem, Beispiel Sowjetunion, oder des Diktats von Konsumzwängen bzw. der Herrschaft der Medien in den westlichen Gesellschaften Eigenständiges kreiert.
Kultursoziologisch ergeben sich durch diese Sammlung sehr interessante Aspekte. Archipov hat hier tatsächlich ein Stück bedeutender Feldforschung geleistet, die – auch wenn sie wissenschaftlichen Kriterien bewusst nicht genügt - für die Deutung und Bewertung der geistigen und materiellen Kultur der Sowjetunion aufschlussreich sein dürfte. Wird Kultur normalerweise im Bereich der oberen sozialen Schichten verhandelt, bei Archipov richtet sich der Blick auf die einfache Bevölkerungsmehrheit.
So mancher schrieb schon über die Poesie der Sammelstücke, die sich grob bis geschickt, kopiert bis genial, ungewöhnlich bis skurril als Skulpturen präsentieren, in der Form nur dem Zweck und den vorhandenen Materialien geschuldet, vorzivilisatorische Notbehelfe bis perfekte Werkstücke. Die Texte, die Archipov bei dieser Gelegenheit von den Eigentümern oder Herstellern in Form von Interviews als Beigabe mitnahm, treten in der Darstellung meist hinter die Objekte zurück. Vielleicht sind es jedoch gerade die Texte, die in besonderer Weise als poetische Fundstücke und Dokumente interessant sind.
23 Texte sind in diesem Katalog publiziert. Sie sind vom Künstler bei großer Worttreue aus den Interviews destilliert worden. Sprachlich sind sie vielfach unbeholfen, derb, stotternd, mit Flüchen angereichert, die Herstellung des Objekts genau beschreibend, die Notwendigkeit, die dazu führte, das Material, das man sich irgendwie besorgte, seine funktionelle Qualität, seinen Gebrauch und Verbleib über die Jahre.
Man erfährt viel über den sozialen Status des Sprechers, über seine Eitelkeit, die Freude, dass ein von ihm selbst als wertlos betrachtetes Stück bei einem Künstler Interesse findet. Man erfährt aber auch viel über die Lebensumstände in der Sowjetunion, über die schmähliche Güterknappheit gerade auf dem Land, wo selbst ein Wannenstöpsel nicht zu bekommen war, über die Kameraderie in Fabriken, wo man mit Freunden das Radio bastelte und erfreut „The Voice of America“ empfangen konnte, über die Langeweile des Rentners, der sich noch gerne nützlich macht und aus Abfallstricken Besen knüpft, über unzulängliche Wasserversorgung, die den Gang zum WC zum russischen Roulett macht, über Mäuse und Ratten auf der Datscha, die so zahlreich sind, dass man eine Doppelmausefalle braucht, über den Brauch, Frauen zum 8.März zu beschenken und zu diesem Zweck Küchenutensilien zu basteln, über Sparsamkeit, die verbietet, ein Stück zu kaufen, das man auch selber machen kann, über Probleme, die sich ergeben, wenn man sein krankes Kind unter der Woche zu den Großeltern bringen muss, es ihm dort aber nicht gefällt, über ein Nationalspiel, das langjähriger Übung, großer Geschicklichkeit und besonders gefertigter Wurfstäbe bedarf, für deren Holz man notfalls in den Kaukasus oder auf die Krim reisen muss, über zugefrorene Dorfweiher und jugendliche Eishockeyspieler, die gekaufte Schläger zu schnell kaputt hauen und um einen Rubel spielen, über die Wasserverschmutzung der Wolga, in der früher die Schwarzfischer mit der Harpune die wohlschmeckenden Störe fingen und heute nur noch grätige ungenießbare Fische vorfinden, über das Gewicht von sozialistischen Schaufeln und den großen Hurrikan in Moskau, bei dem ein Hausmeister beim Aufräumen des Hofs ein Verkehrszeichen fand und es in eine handliche, leichte Schneeschaufel verwandelte, über den ramponierten Antriebsriemen einer Nähmaschine, für den vollwertiger Ersatz weder erfolgreich zu basteln noch auf einer Dienstfahrt nach Tula zu bekommen war, über fehlende Wasserleitungen in der Archangelsker Region, die ein Joch zum Wassertragen wünschenswert erscheinen lassen, über die ewigen Fahrten in der Metro, die man mittels kleiner Karteikärtchen zum Lernen von englischen Wörtern nutzen kann...
Es ist ein wunderbarer Reigen von Texten, die in ihrer naiven Unmittelbarkeit, ihrer poetischen Dichte und ihrer unsentimentalen Ernsthaftigkeit den Leser gleichsam auf den höchsten Turm des Kreml führen und ihm einen weiten Blick über das Land und seine Menschen weisen. Diese Texte sind Teil einer Sammlung von Interviews und in der weiteren Folge Teil einer künstlerischen Installation. Sie können keinerlei literarischen Anspruch erheben und sind auch keinem Autor im Sinne eines Schriftstellers zuzuordnen. Sie sind da als Readymades, genauso wie die Objekte, nicht mehr und nicht weniger. Und trotzdem wünscht man ihnen Leser, die sich an ihrem Detailreichtum, ihrer Unmittelbarkeit und Vitalität erfreuen.